Wie Dominosteine

Dubai/Kabul (epd). Vor einem Brautkleidergeschäft im Zentrum von Kabul, wo bislang glückliche Frauengesichter von Plakaten lächelten, malten am Sonntag Arbeiter alle Bilder mit weißer Farbe über. In Kandahar, Afghanistans zweitgrößter Stadt, spielte die örtliche Radiostation, nun umgetauft in Radio Scharia, keine Musik mehr. In nur knapp zwei Wochen haben die Taliban in einer der vielleicht besten Guerilla-Aktion der Geschichte ganz Afghanistan ohne großen Widerstand eingenommen. Damit beginnt am Hindukusch eine neue, ungewisse Zukunft.

Friedlich soll dabei alles zugehen, so versicherten die Aufständischen am Sonntag immer wieder. Im Präsidentenpalast von Kabul verhandelten Taliban-Vertreter über eine Ausgestaltung einer Übergangsregierung. „Solange bis der Übergangsprozess abgeschlossen ist, liegt die Verantwortung für die Sicherheit von Kabul bei der anderen Seite,“ schrieb ein Sprecher der Taliban auf Twitter und verbreitete damit den Eindruck von Ordnung und Normalität. Allerdings gibt es wenig Zweifel, dass die Formation einer Übergangsregierung einer Kapitulation der afghanischen Regierung gleichkommt.

Ungläubig hatten die USA und andere westliche Staaten der raschen Abfolge der Ereignisse zugesehen, in der Provinzen und Städte nacheinander wie Dominosteine fielen. Bis zum Sonntagmorgen lag die bange Frage in der Luft, ob die Taliban Kabul mit Gewalt einnehmen wollten. Blutige Straßenkampf in der Vier-Millionen-Stadt wären eine humanitären Katastrophe gewesen. Afghanistans Präsident Ashraf Ghani hatte sich noch am Samstag trotz massiven Drucks geweigert, zurückzutreten.

Dem 72-Jährigen Ghani, der 2014 erstmals zum Präsidenten gewählt wurde, war es nicht gelungen, seine Anti-Taliban-Koalition aus Milizenführern und anderen Regionalfürsten zusammenzuhalten, in einem Land, in dem Stammeszugehörigkeiten und regionale Loyalitäten die alles entscheidende Rolle spielen. Mit eigenwilligen Personalentscheidungen hatte Ghani zuletzt viel Sympathien verspielt. Hingegen konnten die Taliban, die selbst ebenfalls ein lockerer Zusammenschluss lokaler Kommandanten mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Interessen sind, ihre Männer deutlich besser bei der Stange halten.

Am Ende siegte der Opportunismus. Die afghanische Armee machte von Beginn der Taliban-Offensive an keinerlei Anstalten zur Gegenwehr. Die 300.000 Mann starke Truppe, die über zwei Jahrzehnte mit Milliarden US-Dollar unterstützt und ausgebildet wurde, ergab sich kampflos statt für die Regierung in Kabul zu streiten. Für viele Soldaten ist die Regierung nur ein unbedeutendes Konstrukt fremder Mächte.

Widerstand schworen alleine die alten Milizenführer, die noch in den 1980er und 1990er Jahren gegen die Taliban ins Feld gezogen waren. Doch auch diese Front bröckelte rasch, als klar wurde, dass die Tage der Regierung in Kabul angesichts des fehlenden Kampfgeistes gezählt waren. Am Samstag wechselte die Stadt Masar-i-Scharif im Norden ohne viel Aufhebens in die Hände der Taliban. Afghanistans viertgrößte Stadt, ein wichtiger strategischer Verkehrsknotenpunkt, war Hauptquartier der Bundeswehr und die letzte Bastion der eingeschworenen Taliban-Gegner.

Das kommenden Jahr wird weisen, wie es in Afghanistan weiter geht. Das Schreckensregime der Taliban in den 1990er Jahren ist für viele Afghaninnen und Afghanen noch eine traumatische Erinnerung. Frauen und Mädchen wurden ins Haus verbannt, Musik und Tanz verboten und angebliche und tatsächliche Gegner des Regimes auf brutalste Weise umgebracht. Öffentliche Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul unter „Allah ist groß“-Rufen der Zuschauer gehörten zum Alltag. Mit dem für viele überstürzten Abzug der USA und der Nato-Truppen vom Hindukusch sind es nun andere regionale Mächte, etwa China und Russland, die nun Einfluss auf Afghanistan ausüben werden.