Taliban rücken weiter auf Afghanistans Hauptstadt Kabul vor

Dubai/Kabul (epd). Die Taliban erobern weitere Gebiet in Afghanistan. Am Freitagnachmittag kontrollierte die radikal-islamische Miliz mindestens die Hälfte der 34 afghanischen Provinzen, wie der TV Sender Tolo News berichtete. Damit haben die Taliban große Teile des Landes bis auf die Hauptstadt Kabul eingenommen. Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe in dem Land. Derweil bereiten sich zahlreiche westliche Staaten auf einen möglichen Fall Kabuls in den kommenden Wochen vor.

Am Freitag fiel neben der Provinz Ghor im Westen Afghanistans auch Kandahar, Afghanistans zweitgrößte Stadt und der frühere Sitz des Taliban-Regimes in den 1990er Jahren. Die Einnahme Kandahars ist ein großer militärischer und strategischer Erfolg der Taliban, die nun alle wichtigen Städte außer Kabul und Masar-i-Scharif im Norden kontrollieren. Neben Kandahar gerieten auch die strategisch wichtigen Provinzen Herat und Helmand unter die Herrschaft der Taliban.

In der Provinz Logar, die nur 80 Kilometer östlich von Kabul liegt, lieferten sich Regierungstruppen und Aufständische am Freitag heftige Kämpfe. Den Taliban gelang es, die Provinzhauptstadt Pul-e-Alam einzunehmen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind seit Beginn des Jahres 400.000 Afghaninnen und Afghanen vor den Kämpfen geflohen. Alleine seit Ende Mai mussten demnach 250.000 Menschen ihre Heimat verlassen. Aus nahezu allen afghanischen Provinzen würden Kämpfe gemeldet.

Seit dem Abzug nahezu aller internationalen Truppen Anfang Mai eroberten die Taliban in schneller Geschwindigkeit große Teile Afghanistans. Die Regierungstruppen haben den Kämpfern der radikal-islamischen Miliz kaum etwas entgegenzusetzen. Der Norwegische Flüchtlingsrat warnte vor einer humanitären Katastrophe. Die Flüchtlingscamps in Kabul seien überfüllt und Familien kämpften um Nahrungsmittel, sagte die Afghanistan-Landesdirektorin der Hilfsorganisation, Tracey Van Heerden.

Ein Sprecher des Auswärtigen Amts nannte die Sicherheitslage in Afghanistan „sehr besorgniserregend“. Er sagte, ein Krisenstab im Auswärtigen Amt berate derzeit über die nächsten Schritte. Ob möglicherweise deutsches Botschaftspersonal mit Hilfe der Verbündeten ausgeflogen werden könnte, wollte der Sprecher nicht sagen. Die USA haben angekündigt, 3.000 Soldaten nach Afghanistan zu schicken, um die Evakuierung ihrer Botschaftsangehörigen und anderer US-Bürger vorzubereiten. Großbritannien bereitet ebenfalls die Evakuierung seiner Staatsbürger aus Afghanistan vor.

Als die Taliban in den 1990er Jahren in Afghanistan herrschten, waren die Rechte von Frauen stark eingeschränkt. Mädchen war der Schulbesuch untersagt. Auch seit dem Beginn der Taliban-Offensive gibt es wieder zunehmend Berichte über Verbrechen in den von ihnen kontrollierten Gebieten.

Vor Racheakten der radikal-islamischen Miliz fürchten sich auch afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kündigte an, alle Möglichkeiten für eine schnelle Ausreise der örtlichen Bundeswehr-Helfer auszuschöpfen, etwa durch eine nachträgliche Visaerteilung in Deutschland. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums sind bereits rund 1.800 afghanische Helfer und deren Familienangehörige in Deutschland eingetroffen.

Die Taliban und die afghanischen Regierung verhandeln derzeit im katarischen Doha, bisher ohne nennenswerte Ergebnisse. Der US-Verhandlungsführer Salmai Khalilzad drohte den Taliban mit internationaler Ächtung, sollten sie Afghanistan gewaltsam einnehmen. Ende August wollen die USA ihren Militäreinsatz in Afghanistan nach fast 20 Jahren ganz beenden. Fast alle Militärbasen sind bereits an die afghanische Armee übergeben worden.