Orbán als Vorbild: "AfD würde demokratische Institutionen schleifen"

Würzburg/London (epd). Der aus Würzburg stammende Peter Neumann (48) gilt als renommierte Experte im Bereich Terrorismusforschung, bislang hat sich der Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King's College vor allem beim Thema Islamismus einen Namen gemacht. Zuletzt hat er sich aber auch verstärkt mit dem Zulauf rechter Parteien auseinandergesetzt. Diesen Herbst erschien sein neues Buch „Logik der Angst“, in dem er sich auch mit dem Aufstieg der AfD auseinandersetzt. Die deutsche Politik ist für ihn kein Neuland - im Bundestagswahlkampf 2021 war er im Expertenteam von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet.

epd: Herr Neumann, Terror von links, von rechts, von Islamisten - welcher ist aktuell für unsere Sicherheit und die Demokratie am gefährlichsten?

Neumann: Die islamistischen Extremisten sind sicherlich die gefährlichsten aktuell - und werden es wohl auch eine ganze Weile noch bleiben. Generell halte ich es jedoch für problematisch, Islamismus und Rechtsextremismus gegeneinander auszuspielen. Strategisch gesehen sind das die zwei größten Gefahren für die liberale Demokratie - mal ist das eine stärker, mal das andere. Wir müssen uns als liberale Demokratien so aufstellen, dass wir mit beiden Gefahren gleichzeitig zurechtkommen können.

epd: Sie haben sich zuletzt intensiv mit dem Rechtsruck in Deutschland befasst. Wenn Sie in wenigen Sätzen zusammenfassen müssten: Woran liegt das?

Neumann: Das liegt vermutlich in der Dichte der Krisen begründet, wie wir in den vergangenen Jahren erlebt haben: Die sogenannte Flüchtlingskrise, Corona, Inflationskrise, Energiekrise, Krieg in der Ukraine, jetzt noch den Nahostkonflikt. Die Menschen sind verunsichert - und sie haben den Eindruck, dass die Politik bei zentralen Themen nicht handlungsfähig scheint. Rechte, Rechtsradikale und Rechtsextreme sind in den vergangenen 200 Jahren immer in solchen Situationen der Verunsicherung besonders stark geworden.

epd: Aber die rechten Parteien bieten keine echten Lösungen für die Herausforderungen, die den Menschen Angst machen. Weshalb sind sie dennoch erfolgreich?

Neumann: Sie bedienen die Angst, sie spielen damit. Und sie versprechen Dinge, die man nicht einfach so überprüfen kann. Sie versprechen ein „Zurück“ in die „guten alten Zeiten“: Egal ob es nun Boris Johnson in Großbritannien mit seinem Brexit, Donald Trump in den USA mit seinem Slogan „Make America Great again“ oder in Deutschland die AfD ist, die den Menschen vorgaukelt, man könne zurück in die 1990er-Jahre, wo „alles in Ordnung“ war, es vermeintlich keine Ausländer und keine „Political Correctness“ gab.

epd: Dieser Rechtsruck ist kein rein deutsches Phänomen - aber er hat deutlich später eingesetzt als in anderen Ländern, warum eigentlich?

Neumann: Es stimmt, diese Verschiebung nach rechts erleben wir quasi flächendeckend: in Skandinavien, in Frankreich, in Italien, auch in Großbritannien, wo ich lebe. In Deutschland galten rechte Parteien viele Jahre als absolut unwählbar für die allermeisten Menschen - wegen unserer Geschichte. Das hat sich verändert. Nicht, weil man nicht mehr weiß, was damals Schlimmes passiert ist, sondern weil man gezielt provozieren will. Für manche Menschen ist es ein Anreiz, mit ihrem Stimmkreuz Panik auszulösen...

epd: ...da sind wir bei der Frage: Wer wählt die rechten Parteien eigentlich - wir sind ja weit entfernt von den wirtschaftlichen Turbulenzen Ende der 1920er-Jahre...

epd: Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, dass die Nazis damals vor allem von den Unterprivilegierten und Abgehängten gewählt wurden. Rechtsextremismus hat immer schon vorwiegend jene Leute angesprochen, die noch etwas zu verlieren haben. Auch beim Brexit-Votum und der Trump-Wahl kam ein überdurchschnittlich hoher Stimmenanteil aus der unteren Mittelklasse - also Leuten, denen es eigentlich nicht schlecht geht, aber die das Gefühl hatten, dass sie etwas zu verlieren haben.

epd: Die AfD ist in manchen Bundesländern in Umfragen aktuell stärkste Kraft. Und sie hat sich in den vergangenen Jahren schnell radikalisiert. Wie kam das?

Neumann: Das ist an sich auch nichts Besonderes. Das ist bisher mit jeder Partei rechts der Union in der Geschichte der Bundesrepublik passiert - das beste Beispiel sind die Republikaner. Allerdings, und das ist neu, hat dieser Rechtsruck allen anderen rechten Parteien immer geschadet. Traditionell war es für eine Partei im Nachkriegs-Deutschland quasi der Todesstoß, wenn sie als Nazi-Partei wahrgenommen wurde. Bei der AfD hingegen werden die Umfrage- und Wahlergebnisse besser, je extremer sie auftritt.

epd: Bundesweit würden mehr als 20 Prozent der Befragten derzeit AfD wählen - aber ist wirklich jeder fünfte in Deutschland ein Anhänger von Rechtsradikalen oder Rechtspopulisten?

Neumann: Dazu gab es ja schon verschiedene Studien mit ganz ähnlichen Ergebnissen. Ich würde einmal zusammenfassend sagen: Weniger als 50 Prozent der AfD-Wähler haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Das bedeutet aber auch, dass die andere Hälfte die AfD nicht aus Überzeugung wählt, sondern aus Protest und Unzufriedenheit. Meiner Meinung nach müssen alle demokratischen Parteien versuchen, diese 50 Prozent der AfD-Wähler wieder für sich zurückzugewinnen.

epd: Ein Blick in andere Länder zeigt, dass rechte Parteien und Politiker mitunter schnell an Zustimmung verlieren, wenn sie selbst in Regierungsverantwortung sind...

Neumann: ...ja, das konnte man zum Beispiel gut an der FPÖ in Österreich und der dortigen Migrationspolitik sehen. Die haben nichts auf die Reihe bekommen bei ihrem Herzensthema. Aber ich würde jetzt davor warnen, das Regieren einfach mal eine Legislaturperiode den Rechten zu überlassen. Ich bin zwar überzeugt, dass die AfD keinen faschistischen Staat ausrufen will, aber sie könnte die Institutionen schleifen, indem sie an entscheidenden Stellen AfD-Sympathisanten setzt.

epd: Das klingt ein bisschen nach der Strategie von Viktor Orbán. Offiziell ist Ungarn noch eine Demokratie, aber vieles ist schon ziemlich autokratisch, oder?

Neumann: Genau, nach und nach werden die Medien, die Justiz, das Parlament entmachtet. Immer in ganz kleinen Schritten, damit keiner zu laut aufbegehrt. Ungarn ist nach wie vor eine formale Demokratie: Es gibt demokratische Prozesse, es gibt auch eine Opposition, auch Medien, aber letztlich gibt es keine Chance für diese Opposition oder Medien, für liberale Institutionen, die Regierung noch effektiv zu kontrollieren. Das ist eine Situation, die auch die AfD bei uns herbeiführen will, sobald sie könnte.

epd: Rechtsextreme Gruppen hegen zum Teil gewaltsame Umsturzfantasien. Wie sieht es bei der AfD aus - wie weit würden deren völkisch-nationalistische Unterstützer gehen?

Neumann: Ich sehe das Risiko eines gewaltsamen Putschversuchs momentan nicht. Es ist eher der schleichende Weg à la Orbán, den die AfD-Spitze favorisiert - vor allem, seit die Umfrageergebnisse den Griff nach der Macht möglich erscheinen lassen. Allerdings grenzt sich die AfD von den gewaltbereiten Teilen des rechten Spektrums nicht ab. Ich vermute, dass das ganz bewusst geschieht. Denn man will alle, die gegen das jetzige „System“ sind, irgendwie mitnehmen - auch die Verschwörungstheoretiker, die Waffennarren und Spinner.

epd: Führende AfD-Politiker werden ihrem eigenen Programm nicht gerecht: Einige haben keine Ausbildung, andere leben offen homosexuell, manche waren straffällig - weshalb stört die Wähler das nicht?

Neumann: Es ist in der Tat auffällig, dass eine lesbische Frau, die mit einer Migrantin verheiratet ist und Kinder hat, und die auch noch ihren Wohnsitz im Ausland hat, mit an der Spitze dieser Partei steht. Wie Alice Weidel das zusammenbringt, das ist mir auch ein Rätsel. Wahrscheinlich überlagert der Hass auf das Establishment, zu dem Frau Weidel ja irgendwie selbst gehört, alles andere. Was die Wähler angeht: Die schauen darüber großzügig hinweg - es geht ihnen, wie zuvor erwähnt, primär um Denkzettel und ums Panikauslösen.

epd: Angesichts der hohen Umfragewerte wird immer wieder auch über ein Verbot der AfD diskutiert. Stärkt so etwas die AfD in ihrer Opferrolle nicht erst recht?

Neumann: Viele Leute stellen sich das so vor, dass es da diesen „Verbotsknopf“ gibt, den drückt man, und alles ist wieder gut. Aber so läuft das nicht. Ein Parteienverbot hat hohe Hürden - und der ganze Weg durch die Instanzen dauert. Bis das Bundesverfassungsgericht ein Urteil spricht, können Jahre vergehen. Und in dieser ganzen Zeit könnte sich die AfD wunderbar in der Opferrolle suhlen und würde davon maximal profitieren. Sie sehen sich ja schon jetzt als „Verfolgte“ des „Systems“...

epd: Und wenn dann am Ende des ganzen Prozesses doch ein Verbot stünde - wäre das nicht doch irgendwie hilfreich?

Neumann: Natürlich kann man sich fragen, ob das Verbot einer Partei, bei der laut Verfassungsschutz inzwischen drei Landesverbände als gesichert rechtsextrem gelten, hilfreich wäre für den Schutz unserer Demokratie. Aber wenn 20 Prozent der Wähler bundesweit ihr Kreuz bei der Partei machen, muss man vor allem die Wählerinnen und Wähler, die nicht zum festen rechtsextremen Kern gehören, abgreifen. Ansonsten wird eine Nachfolgeorganisation gegründet und dann eben die gewählt.