Cesare Zucconi: In Zeiten multipler Krisen nicht resignieren

Rom/Berlin (epd). Vor dem Friedenstreffen der katholischen Laiengemeinschaft Sant’Egidio in Berlin ruft deren Generalsekretär Cesare Zucconi dazu auf, vor den vielen derzeitigen Krisen nicht zu resignieren. „Wir leben in einer Zeit, die so stark vom Krieg geprägt ist, dass die Versuchung dazu groß ist“, sagte Zucconi im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Viele sähen den Krieg als etwas, das uns immer begleiten werde.

„Wir leben im Nebel des Krieges, wir sehen den Frieden nicht mehr als ein mögliches Szenario für unsere Zukunft“, sagte Zucconi. Gerade deshalb sei das Friedenstreffen, auf dem Vertreter unterschiedlicher Religionen und Kulturen aus aller Welt zusammenkommen, um nach Wegen zum Frieden zu suchen, wichtiger denn je. „Es geht nicht darum, über den interreligiösen Dialog zu sprechen“, konkretisierte Zucconi die Intention des Friedenstreffens, sondern darum, gemeinsam nach Antworten zu suchen.

Zum 37. Mal findet das von Sant’Egidio organisierte internationale Friedenstreffen statt, in diesem Jahr vom 10. bis zum 12. September in Berlin. „Berlin ist auch die Stadt, in der eine Mauer gefallen ist“, sagte Zucconi dem epd, „und das auf friedliche Weise, ohne Blutvergießen.“ Das Treffen in Berlin bedeute also auch, dass man deutlich sage: Wir müssen mehr wagen.

Das Treffen steht unter der Überschrift „Den Frieden wagen. Religionen und Kulturen im Dialog.“ Es soll dem Dialog zwischen hochrangigen Vertretern aus Politik und Religion sowie zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen dienen. Als prominente Gäste werden unter anderem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt. Nach Aachen (2003), München (2011) und Münster-Osnabrück (2017) wird das Friedenstreffen zum vierten Mal in Deutschland stattfinden.

Auf dem diesjährigen Treffen wird es auch eine Diskussionsrunde über die Klima- und Umweltkrise geben. „Wir werden das sehr konkret thematisieren“, sagte Zucconi. Damit wolle man auch in der religiösen Welt mehr in Bewegung setzen und ein Bewusstsein für die Herausforderungen schaffen.

Die Bewegung Sant’Egidio entstand 1968 in Rom auf Initiative des Historikers Andrea Riccardi. Sie ist nach eigenen Angaben in mehr als 70 Ländern vor allem in der Friedensarbeit und in Sozialprojekten aktiv und veranstaltet jährliche Weltfriedenstreffen. Die Gemeinschaft hat ihren Sitz in Rom. Der 60-jährige römische Politologe Cesare Zucconi ist seit 2008 Generalsekretär von Sant’Egidio.

Das Interview im Wortlaut:

epd: Vom 10. bis 12. September wird das von Sant’Egidio organisierte Friedenstreffen stattfinden. Dieses Jahr wurde Berlin als Veranstaltungsort gewählt. Bei den vielen Krisen, die derzeit auf der Welt herrschen - wo wird der Fokus des Friedenstreffens liegen?

Cesare Zucconi: Wir kommen in Berlin zusammen, in einer Stadt, die in den vergangenen zwei Jahrhunderten so viele Dramen erlebt hat. Um nur ein paar zu nennen: Da waren die Weltkriege, der Totalitarismus, die Schoah, die Trennung. Aber Berlin ist auch die Stadt, in der eine Mauer gefallen ist. Und das auf friedliche Weise, ohne Blutvergießen. Das Treffen in Berlin bedeutet also auch, dass wir sagen: Wir müssen mehr wagen. Das ist auch der diesjährige Titel des Treffens: „Den Frieden wagen.“ Wir müssen wagen, dass Mauern fallen.

epd: Welche Mauern meinen Sie?

Zucconi: Ich denke dabei an manche unsichtbare Mauer, die Mauer des Krieges in Europa, aber auch weltweit. Wir erleben nicht nur die russische Aggression gegen die Ukraine, die in der ukrainischen Bevölkerung großen Kummer, unfassbares Leid und Sorgen schafft. In Syrien herrscht auch nach zwölf Jahren noch immer Krieg. Und es gibt die vielen Kriege in Afrika, die nicht zu Ende gehen, und neue, die beginnen. Ich denke aber auch an die physischen Mauern, die gegenüber Migranten und Flüchtlingen aufgebaut werden und die unseren Kontinent immer mehr zu einer Festung machen. Und nicht nur unseren, sie sind beispielsweise auch in Amerika zu finden.

epd: Sie haben bereits das Motto des Treffens angesprochen: „Den Frieden wagen“. Es klingt fast, als wäre es ein Risiko, sich auf den Frieden einzulassen. Warum muss man Frieden „wagen“?

Zucconi: Wir leben in einer Zeit, die so stark vom Krieg geprägt ist, dass die Versuchung groß ist, einfach zu resignieren, den Krieg als etwas zu sehen, das uns immer begleiten und das Leben der Menschen bestimmen wird. Wir leben im Nebel des Krieges, wir sehen den Frieden nicht mehr als ein mögliches Szenario für unsere Zukunft. Aber wir müssen uns auch fragen: Können wir wirklich nicht mehr tun für den Frieden? Wurde wirklich alles versucht?

epd: Sie meinen die Politik?

Zucconi: Ich meine dabei nicht nur von der Politik. Ich meine auch von den Gläubigen aller Religionen und religiösen Überzeugungen. Bei dem Friedenstreffen in Berlin kommen Menschen unterschiedlicher Religionen zusammen, Menschen unterschiedlicher Kulturen treten in den Dialog, sie hören einander zu in einer Umgebung, die von einer freundschaftlichen Stimmung geprägt ist. Es ist ein großer Moment der Begegnung. Und es geht nicht darum, über den interreligiösen Dialog zu sprechen. Sondern wir wollen uns gemeinsam, Männer und Frauen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen und Kulturen, den Herausforderungen unserer Zeit stellen, aufeinander hören, nach Wegen und Antworten suchen. Wir wollen nach dem Frieden suchen.

epd: Wer wird alles teilnehmen an dem Friedenstreffen?

Zucconi: Ich glaube, alle müssen in diese Suche involviert sein. Hochrangige Politiker werden teilnehmen, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz. Auch der Präsident von Guinea-Bissau, Umaro Sissoco Embaló wird kommen, sowie zahlreiche Vertreter der Zivilgesellschaft: Männer und Frauen, die sich dort, wo sie leben, einsetzen für die Ärmeren, für diejenigen, die in einer Notsituation sind. Eine junge Frau aus Afghanistan wird bei der Eröffnung sprechen und uns das Leiden ihres Landes nahebringen, eines Landes, das wir in Europa vergessen haben.

epd: Wer wird noch sprechen?

Zucconi: Auf einem Podium, das besonders jungen Leuten gewidmet ist, werden sowohl eine junge Ukrainerin sprechen als auch ein Priester aus Mexiko, der sich sehr um die Aufnahme südamerikanischer Flüchtlinge bemüht, die versuchen, nach Nordamerika zu gelangen. Er sieht sich deshalb täglichen Bedrohungen ausgesetzt. Diese Stimmen bringen uns das Leiden der Welt nahe. Wir sind oft etwas abgestumpft - es gibt so viele Krisen, dass wir nicht wissen, was wir überhaupt dagegen tun können. Aber da sind Menschen, die sich einsetzen, obwohl ihr Leben bedroht wird. Selbst in der schwierigsten Situation kann man etwas tun.

epd: Dann ist das Treffen auch eine Art Ermutigung?

Zucconi: Ja, es ist eine Ermutigung an diese Menschen, aber auch eine Ermutigung an uns. Man muss immer an den Frieden glauben und daran, dass der Frieden möglich ist. Wir dürfen nicht resignieren. Das ist kein Mantra. Natürlich kommt diese Überzeugung aus unserem Glauben als Christen, denn wir sind Jünger des Friedensfürsten. Aber sie kommt auch aus einer realistischen Haltung. Wir sind keine Pazifisten, keine Ideologen. Wir glauben, der Frieden und der Dialog sind der einzige Weg und das einzige Ziel, das der Menschheit überhaupt eine Zukunft ermöglichen kann.

epd: Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist unter anderem für ihr Handeln in der Flüchtlingskrise bekannt. Wie viele Menschen wurden bereits über die humanitären Korridore auf sicherem Weg nach Europa gebracht?

Zucconi: Bis heute sind es etwa 7.000 Menschen, die auf diesem Weg nach Europa gekommen sind. Ich möchte betonen, dass die humanitären Korridore ein ökumenisches Projekt sind, das wir zusammen mit den Protestanten machen - sie sind ein wichtiges Zeugnis für eine ökumenische Zusammenarbeit. Das ist ein gelungenes Modell, eine Best Practice, die zeigt, dass es eine Alternative zu diesem tragischen Geschehen im Mittelmeer gibt, eine sichere Alternative, die auch den Schleppern ihre Beute wegnimmt. Und diese humanitären Korridore sind ein Beispiel der Synergie, der Zusammenarbeit zwischen Politik und Zivilgesellschaft. So ein komplexes Phänomen, wie das der Migration, kann eine Regierung nicht alleine schaffen.

epd: Nicht nur Kriege führen heute zu großem Leid, auch die Klimakrise bedroht viele Menschen. Papst Franziskus hat bereits angekündigt, Anfang Oktober einen zweiten Teil seiner Enzyklika „Laudato si'“ zu veröffentlichen. Wie präsent wird das Thema Klima auf dem Friedenstreffen sein?

Zucconi: Es wird extra ein Panel über die Klima- und Umweltkrise geben. Wir werden das sehr konkret thematisieren, um damit auch die religiösen Welten mehr in Bewegung zu setzen und ein Bewusstsein für die Herausforderungen zu schaffen und zu verbreiten. Ich glaube, dass sich auch in den religiösen Welten besonders mit der Corona-Pandemie einiges getan hat. Es gibt die Wahrnehmung, dass wir in einem Boot sitzen und dass wir stärker gemeinsam rudern müssen. Auch wenn es noch immer Menschen gibt, die die Klimakrise leugnen.

epd: Ist dieser zweite Teil von „Laudato si'“ von Papst Franziskus ein Zeichen, dass sich die katholische Kirche der aktuellen Krisen bewusst ist?

Zucconi: Es sind große Fragen, die man schnell angehen muss. Ich denke, hier ist Papst Franziskus sehr bemüht und ich glaube, er hat auch sehr viel getan, was auch in der katholischen Kirche zu einer starken Wahrnehmung für diese Herausforderung geführt hat. Auch in der Perspektive, dass der Mensch und die Schöpfung zusammengehören: Bewahrung des Menschen gleich Bewahrung der Schöpfung.

epd: Das Treffen in Berlin ist das 37. Friedenstreffen, das die Gemeinschaft Sant’Edigio organisiert. Gab es schon einmal ein Jahr, in dem so viele Krisen zeitgleich herrschten wie 2023?

Zucconi: Ich denke, eine große Krise war in der Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Als wir damals weitergemacht haben, haben wir viel Gegenwind bekommen. Einer der freundlichsten Ausdrücke war: Ihr seid naive Idioten. Weil wir weiter an einen Dialog mit den Muslimen geglaubt haben, an eine gemeinsame Zukunft. Wir haben hartnäckig weitergemacht und ich glaube, heute sieht man die Früchte davon. Zum Beispiel wird auch der Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb nach Berlin kommen, der in Abu Dhabi 2019 zusammen mit Papst Franziskus das „Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ unterzeichnet hat.

epd: Für Sie ist das Friedenstreffen also ein Beispiel für gelungene Ökumene?

Zucconi: Ja, vor allem der Abschluss der Veranstaltung am Dienstag, wenn die unterschiedlichen Religionen für den Frieden beten werden. Zwar an getrennten Orten, je nach der religiösen Tradition, aber das ist auch der Geist von Assisi: Es geht nicht um einen Obstsalat der Religionen, sondern darum, dass jeder sich mit seiner Identität einbringt.

Hintergrund: Gemeinschaft Sant'Egidio

Die katholische Laiengemeinschaft Sant'Egidio wurde 1968 unter dem Eindruck der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) in Rom gegründet. Sie besteht nach eigenen Angaben aus einem Netzwerk von Gemeinschaften in 70 Ländern, denen etwa 60.000 Mitglieder angehören. Grundpfeiler der Gemeinschaft sind gemeinsames Gebet, der Einsatz für Arme sowie die Friedensarbeit.

Seit dem 1986 auf Anregung von Papst Johannes Paul II. (1920-2005) in Assisi einberufenen interreligiösen Friedensgebet lädt die Gemeinschaft jedes Jahr an einem anderen Ort internationale Vertreter von Religionen, Politik, Wirtschaft und Kultur zum Weltfriedenstreffen ein. Die Begegnung findet in diesem Jahr von Sonntag bis Dienstag in Berlin statt. Dazu werden auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erwartet.

Mit den Friedenstreffen möchte die Gemeinschaft die Bedingungen für die Beilegung von Konflikten verbessern. Mehrfach vermittelte sie zwischen afrikanischen Konfliktparteien, zuletzt etwa im Südsudan. Der jahrzehntelange Bürgerkrieg in Mosambik wurde 1992 mit einem in Rom unterzeichneten Friedensabkommen beendet, unter maßgeblicher Beteiligung von Sant'Egidio.

Zum täglichen Abendgebet versammelt sich die Gemeinschaft in Rom in der mittelalterlichen Basilika Santa Maria in Trastevere, seitdem die benachbarte Kirche Sant'Egidio neben ihrer Zentrale für die wachsende Teilnehmerzahl zu klein wurde. Der Gründer der Gemeinschaft, Andrea Riccardi, organisierte mit gleichgesinnten Katholiken Ende der 1960er Jahre in den römischen Barackenstädten Unterricht für Vorstadtkinder. Riccardi war zwischen 2011 und 2013 italienischer Minister für internationale Zusammenarbeit. Der Träger des Aachener Karlspreises wurde 2021 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und erhält regelmäßig Papstaudienzen.

Mit ihrem Programm, christliche Nächstenliebe im Alltag zu üben, fand die Gemeinschaft Anerkennung im Vatikan. Sie pflegt auch viele Kontakte zu Regierungspolitikerinnen und -politikern. So besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) während ihrer Amtszeit mehrfach die Gemeinschaft in Rom.

Präsident der Gemeinschaft Sant'Egidio ist seit 2003 der Italiener Marco Impagliazzo. Das Amt wird alle vier Jahre von Vertretern der Gemeinschaften aus den einzelnen Ländern gewählt. Papst Franziskus ernannte Impagliazzo im vergangenen Jahr zum Sachverständigen der vatikanischen Heiligsprechungsbehörde. Der Historiker ist Professor für Zeitgeschichte der römischen Universität „Roma Tre“.