Afghanistan: Präsident will gegen Taliban mobilisieren

Frankfurt a.M./Kabul (epd). Angesichts des schnellen Vormarschs der Taliban wird die Lage in Afghanistan für die Bevölkerung und die Regierung immer schwieriger. Präsident Aschraf Ghani rief am Samstag zum Kampf gegen die Aufständischen auf. In einer Fernsehansprache sagte er, die erneute Mobilisierung der afghanischen Armee habe nun Vorrang. Gleichzeitig wächst der Druck auf Ghani, zurückzutreten, um Platz für eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Taliban zu machen.

Die Aufständischen kontrollieren inzwischen mehr als die Hälfte der 34 Provinzen Afghanistans. Von den Großstädten sind nur noch Kabul, Masar-e-Scharif im Norden des Landes und Dschalalabad an der Grenze zu Pakistans unter der Kontrolle der Regierung. Am Samstag drangen die Taliban bis in die Provinz Kabul, in den Distrikt Char Asiab, nur elf Kilometer südlich der Hauptstadt vor, wie der TV-Sender Tolo News berichtete. Regierungstruppen und Aufständische lieferten sich auch heftige Kämpfe in der Stadt Maidan Schahr, die knapp 40 Kilometer westlich von Kabul entfernt liegt.

Hunderttausende Familien waren in den vergangenen Tagen aus den von den Taliban eroberten Gebieten nach Kabul geflohen. Kanadas Premierminister Justin Trudeau kündigte an, sein Land wolle 20.000 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufnehmen. Mit der Rückkehr der Taliban müssen Menschenrechtsaktivisten, Frauenrechtlerinnen, Medienschaffende und andere Gruppen um ihr Leben fürchten.

Auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, und die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock rechnen mit mehr Flüchtlingen aus Afghanistan. Derzeit gebe es in Afghanistan 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge. Nicht nur auf die Türkei, den Iran und Pakistan werde der Druck „massiv“ steigen, sagte Roth der Rheinischen Post (Samstag). „Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmend wird.“

Baerbock forderte, die EU-Länder müssten sich auf eine Aufnahmen von Flüchtlingen vorbereiten. Man dürfe die Fehler des Syrien-Krieges nicht wiederholen und warten, bis alle Mitgliedsländer dazu bereit seien, sagte sie im Deutschlandfunk. Stattdessen solle eine Kontingentregelung mit den EU-Staaten, die dazu bereit seien, sowie mit den USA und Kanada gefunden werden.

Der Leiter von Caritas International in Afghanistan, Stefan Recker, verwies auf die sich immer weiter verschlechternde humanitäre Lage im Land. Die Menschen seien aufgrund der Kämpfe, einer Dürre und aus Angst vor Racheakten der Taliban auf der Flucht. In der Hauptstadt Kabul lebten viele Flüchtlinge auf der Straße oder in Parks. „Die Lage für die Neuankömmlinge ist sehr schlecht“, sagte Recker dem epd. Er rechnet damit, dass internationale Helferinnen und Helfer auch unter einem Taliban-Regime weiter arbeiten können, wenn auch unter Einschränkungen. Bisher sei jedoch keine Hilfsorganisation angegriffen worden.

Seit dem Abzug nahezu aller internationalen Truppen Anfang Mai eroberten die Taliban in schneller Geschwindigkeit große Teile Afghanistans. Die afghanische Armee kann ihnen kaum etwas entgegensetzen. Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban in katarischen Doha brachten in dieser Woche keinerlei nennenswerten Ergebnisse.

Am Samstag fiel auch die Provinz Logar, im Süden von Kabul, ganz in die Hände der Taliban. Auch um Masar-e-Scharif im Norden, das von den Taliban inzwischen eingekesselt ist, gingen die Kämpfe weiter. In den von den Aufständischen besetzten Gebieten häufen sich Berichte über Kriegsverbrechen. Die Vereinten Nationen appellierten am Freitag an die Nachbarländer Afghanistans, ihre Grenzen für Bürgerkriegsflüchtlinge offenzuhalten.

Derweil trafen die ersten der 3.000 US-Spezialkräfte in der Hauptstadt ein, die die Evakuierung von US-Diplomaten und anderen amerikanischen Staatsbürgern vorbereiten sollen. Auch das Personal der deutschen Botschaft in Kabul soll laut Außenminister Heiko Maas (SPD) auf ein Minimum reduziert werden. Er rief am Freitagabend alle Deutschen in Afghanistan auf, das Land zu verlassen. Geplante Charterflüge würden vorgezogen. „Wir werden mit diesen Charterflügen auch die noch in Afghanistan befindlichen Ortskräfte ausfliegen.“ Visa würden denjenigen, die noch keine hätten, in Deutschland erteilt.

Ende August wollen die USA ihren Militäreinsatz in Afghanistan nach fast 20 Jahren ganz beenden. Fast alle Militärbasen sind bereits an die afghanische Armee übergeben worden. Die letzten deutschen Soldaten kehrten im Juni zurück.

Der frühere afghanische Außenminister, Rangin Spanta, kritisierte den kurzfristigen Abzug der internationalen Truppen aus seinem Land scharf. Die Bevölkerung sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden und sitze nun in einer Falle, sagte Spanta am Samstag im Deutschlandfunk. Er habe erhebliche Zweifel, dass man ein Land mit Hilfe des Auslands demokratisieren könne, ohne die inneren Dynamiken des Landes adäquat zu berücksichtigen, sagte Spanta. Die militärische Präsenz sei beim internationalen Einsatz in Afghanistan überbetont worden, ohne die Ursachen für den Terrorismus zu bekämpfen.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), forderte derweil ein erneutes Eingreifen des Westens gegen die Taliban - ausdrücklich unter Beteiligung der Bundeswehr. „Man darf nicht dabei zuschauen, wie Menschen, die uns lange verbunden waren, von den Taliban abgeschlachtet werden, wie Mädchen und Frauen alle hart erkämpften Rechte wieder verlieren“, sagte Röttgen dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.