Predigt des Friedensbeauftragten Friedrich Kramer (2023)

Predigt des Friedensbeauftragten der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer, im Friedensgottesdienst auf dem Evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg:

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da war, der da ist und der da kommt: Christus Jesus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, was für ein Friedensfest, so ein Kirchentag! Wie wenig Polizei man doch braucht, wenn über 60.000 Protestanten durch die Stadt streichen; alle friedlich gesinnt am grünen Band zu erkennen. Keine Schlägereien, keine Brutalitäten, keine Gewalt. Schon Grund genug zu sagen: Gott sei Dank, was für ein Friedensfest! Und dann kommen wir zum Gottesdienst zusammen oder auf die Podien, und es bricht mitten in unser Friedensfest hinein: die brutalen und gewaltsamen Themen unserer Zeit. Das passt so gar nicht. Die Sonne ist schön, das Wetter ist toll. Nette Menschen. Müssen wir uns die schöne Stimmung verderben lassen? Aber wir Christen, wir kucken hin. Wir kucken nicht weg, sondern wir lassen uns ermahnen, hinzusehen und nicht wegzuschauen. Und so, mitten im großen Friedensfest, bricht der Krieg hinein, mitten in die gute Zeit: Die Unzeit. Die Unzeit ist ein Wort, das Sie wahrscheinlich selten verwenden. Das griechische Wort ἄκαιρος meint im Unterschied zur guten Zeit das Unzeitgemäße, das nicht Entsprechende, die Nicht-Zeit, den Zeit-Löscher. Und wir kennen das, wenn schweres Leid in unser eigenes Leben tritt, der Tod, dann geht draußen alles weiter in der Zeit, aber wir sind in der Unzeit, ganz andere Zeit, ganz andere Ordnungen, ganz anderes Suchen nach Leben. Die Welt mit ihren ganzen Ordnungen ist bedroht und die friedenssichernde Kraft und das Recht, auf das wir gesetzt haben, auf die Versöhnung. Viele Fragen.

Viele von euch, liebe Geschwister, sind zerrissen und verunsichert, was sie sagen sollen in diesen heißen Debatten, die immer nur das eine fragen: "Ja" oder "Nein", "Freund" oder "Feind". Und dann die vielen, die nur sagen können "Ich hab recht, ich hab recht, ich habe recht." Da kommt der Predigttext und spricht dich ganz persönlich an: "So ermahne ich dich inständig vor Gott und Christus Jesus, der richten wird, die Lebenden und die Toten und bei seiner Erscheinung und seinem Reich: Predige das Wort! Stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit. Weise zu recht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre!" Eine Aufforderung an einen Einzelnen, weiter zu predigen, weiterzureden. Paulus an Timotheus oder wer auch immer es an Timotheus geschrieben hat, auch in der Unzeit am Wort Gottes zu bleiben. Wir hören, dass jetzt Zeit sei für Waffen. Und wissen doch, dass Christus die Waffen uns aus den Händen nimmt. Wir hören, dass es jetzt Zeit sei, mit den alten Gedanken und den alten Ideen aus der Friedensbewegung Schluss zu machen: Betonköpfe von gestern. Jetzt kommt die neue Zeit. Und wir spüren, dass was da verheißen wird, ist nicht von gestern, sondern von vorgestern. Rückfall in die Plausibilität von Gewalt. Sollen wir das als Europäerinnen und Europäer, die wir doch alle Friedensnobelpreisträger sind, mitmachen? Sollen wir zustimmen, wo doch klar ist, dass wir in einer Weltordnung leben, die den Krieg verbietet und die uns alle mit der Zustimmung aller Länder dieser Welt zu einer kriegsverbietenden Ordnung geboten hat?

Ich beschwöre dich bei Gott, dass du Stand hältst - und Paulus ermahnt den Timotheus - beim Gericht über die Lebenden und die Toten. Das finde ich für unsere Debatten noch mal spannend, zu überlegen vor welchem Horizont antworte ich einfach? Jetzt gerade schnell bis der Druck steigt oder überlege ich meine Antworten und mein Nachdenken vor dem Richter am Ende der Tage? Wir Protestanten haben ja in Fröhlichkeit der Betonung der Liebe Gottes und seiner Gnade das Jüngste Gericht mehr oder weniger als Bedrohungsszenario abgeschafft. Aber dass wir uns verantworten müssen für das, was wir sagen und tun, für das, wofür wir eintreten, das ist wohl völlig fraglos. Wir erleben eine Zeit, in der den Kirchen der Wind scharf ins Gesicht weht: Der Glaube selbst scheint unzeitgemäß. Jetzt sprechen die Waffen. Sollen die Kirchen dazu schweigen oder Ja zu Waffen sagen? Leben wir nicht in Zeiten, in denen der Abstand zwischen dem, was wir Christenmenschen zu sagen haben und wozu uns Christus aufruft und dem, was die Menschen hören möchten, weit auseinander liegt? "Es wird eine Zeit kommen", so heißt es im Timotheus Brief, "in der sie die unverfälschte Lehre nicht mehr ertragen wollen. Vielmehr werden sie sich immer neue Lehrer suchen, die ihren Bedürfnissen entgegenkommen und ihren Ohren schmeicheln." Oder Bei Luther heißt es so schön: "Sie werden sich Lehrer suchen, nach denen Ihnen die Ohren jucken." Wonach juckt Ihnen das Ohr, wenn Sie zum Kirchentag kommen? Wollen wir das hören, was uns gut tut und was wir schon wissen und was wir auch bestätigt haben wollen? "Aber vor der Wahrheit werden sie Ihr Ohr verschließen und sich erfundenen Geschichten zuwenden."
 
Oh, wie wir das kennen - in den letzten Jahren - mit den erfundenen Geschichten! Fake News nennt man es jetzt und man schafft es damit sogar, Präsident eines großen Landes zu werden. Einfach das sagen, was die Leute hören wollen und wonach in die Ohren jucken. Dann kommst du damit durch, egal ob es stimmt oder nicht. Wie kann man bei der Wahrheit bleiben und was ist die Wahrheit? Was ist die Wahrheit, wenn es sehr komplex und kompliziert wird und klar ist, die eine Antwort "Waffen ja" - "Waffen nein" oder wie auch immer, trägt nicht. Und dann sagst du etwas sehr differenziert wie unsere Ratsvorsitzende Annette Kurschuß, die so liebend gern hier gewesen wäre und von der ich noch mal ausdrücklich herzlich grüße, sie sagt: "Ich spüre in mir eine große Zerrissenheit, wenn ich gefragt werde, wie die Kirche zu diesem Krieg steht." Wie stellen wir uns dazu, wenn immer mehr und immer schwerere Waffen auch aus Deutschland in die Ukraine geliefert werden? Alte Wahrheiten werden brüchig und fragwürdig. Unzeit? Das hieß doch früher auch: "Wir liefern keine Waffen in Kriegszeiten. Seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine ringe ich mit den ethischen Fragen und Zumutungen, die uns dieser Krieg aufzwingt. Wir müssen zwischen lauter schlechten Möglichkeiten das kleinere Übel suchen." Sie spricht abgewogen, differenziert, wohlüberlegt und klug. Aber was wird dann geschrieben und weitererzählt? Heißt es dann nicht: "Die Ratsvorsitzende hat gesagt, Waffen für die Ukraine sind christliche Pflicht der Nächstenliebe." Massiv verkürzt und falsch, so hat sie es nie gesagt. Aber die Ohren jucken und die falschen Lehren gehen von Mund zu Mund. Da ist aber das Wort vom Reich Gottes. Und Timotheus wird ermutigt, nicht nachzulassen, sondern dabei zu bleiben. Die Friedensbotschaft, das Wort von der Versöhnung, das Wort vom Frieden weiterzusagen, auch und gerade im Hier und Jetzt, mitten in den Zeiten und in den Unzeiten unserer Welt. Und es stellt sich natürlich die Frage, wie und wo und an welchen Stellen in unserer Welt diese Verheißung des Friedens spürbar wird und ihre Spuren hinterlässt. Hatten wir nicht das Gefühl, nach der friedlichen Revolution, die ja ein großes Friedensthema noch neu zum Leuchten gebracht hat, hier in Deutschland, das begonnen hat ja letztlich mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Erschütterung, wie zerstörerisch der Krieg ist. Und klar war damals allen Die Hand soll abfaulen und abfallen, wenn sie wieder eine Waffe in die Hand nimmt. Und dann die Wiederaufrüstung, die NATO-Nachrüstungsdebatten und wir als Kirchen mittendrin und immer auf der Suche nach Frieden. Die Kirchentage: Was für Friedensfeste und Friedensansagen - mitten in der Unzeit der Kriegsvorbereitung! Und wie knapp war es, dass es nicht zum atomaren Inferno gekommen ist! Und wie haben wir es genossen, die Abrüstung und dass die Gefahren weg waren, dass man nach Russland fahren konnte und dass plötzlich Gespräche, Versöhnungsarbeit, ja großartige Versöhnungsprojekte möglich wurden!

Und dann: die friedliche Revolution. Was für eine große Erfahrung, dass Frieden möglich ist! Haben wir gedacht, wir Menschen könnten den Frieden machen? Erleben wir gerade als Friedensbegeisterte und Friedensbewegte, dass es gar nicht in unserer Hand liegt? Und wenn wir das merken und uns der Wind ins Gesicht bläst, wollen wir es dann sein lassen mit der Arbeit für den Frieden? Wir haben gerade drei sehr eindrucksvolle Berichte von Friedensinitiativen, Einübung in gewaltfreie Konfliktbearbeitung, die an vielen Stellen der Welt und gerade auch in unserem Land so dringend nötig ist. Wir haben drei eindrückliche Berichte gehört und Ihnen wird nicht entgangen sein, dass das alles Frauen waren, die da berichtet haben. Dass Friedensarbeitsgesicht ist oft das der Frauen, das Kriegsgesicht das der Männer. Es ist die Zeit, dass wir Männer mehr auf die Frauen hören, dass die Friedensarbeit stärker wird als die Kriegsvorbereitung. Auch gerade in unserem Land. [Applaus] Wir suchen Spuren des Friedensreiches in den Aktionen, in der Arbeit von Friedensarbeitenden, aber auch bei dir in deinem Umfeld. Wie stehst du zur Lehre Jesu, der Gewaltlosigkeit und des Friedens - bei allem, was du vielleicht auch unterschiedlich und sehr differenziert denkst - zu der Frage der Ukraine? Wo bist du selbst eine Friedensbotschafterin, ein Friedensbotschafter? Wo segnet du die, die dich verfluchen? Wo sprichst du das Wort weiter in allem Streit? Und wir haben großartige Beispiele, wo wir als Kirchen hier wirklich Friedensarbeiter auch in unserem Land sind. Bei Dialogveranstaltungen, kirchlichen Räumen, wo Impfbefürworter und Impfgegner zusammenkommen, wo es so viel Streit gab und auch alles sehr komplex und nicht so einfach zu beantworten ist.

Aber auch im Krieg und in der Frage des Friedensgebetes: An so vielen Stellen beten wir für den Frieden, unterstützen die Flüchtlinge, die da sind, weinen mit ihnen und haben Angst um ihre Männer und sind mitten dabei, für den Frieden tätig zu sein. Lasst euch nicht irre machen, sagt Timotheus, der Timotheus-Brief zu uns. Das sagt Paulus zu Timotheus: "Lass dich nicht irre machen! Bleib bei der Botschaft Jesu, bleib bei der Botschaft Jesu und fordere, dass für jede gelieferte Waffe 1000 Gesprächsinitiativen und Friedensinitiativen gestartet werden. Bleibe dabei. Zur Zeit und zur Unzeit." Und dann wird dem Timotheus ein nüchterner Kopf empfohlen: "Du bewahre einen klaren Kopf, sei bereit zu leiden, komm deiner Aufgabe nach, die gute Nachricht zu verkünden, erfülle deinen Dienst mit ganzer Hingabe." Ja, es braucht Nüchternheit, um nicht in einfache Freun- Feind, Ja-Nein-Schemen zu verfallen. Und es braucht Leidens- und Dienstbereitschaft, in dieser Reihenfolge. Denn wir alle wissen: Das Maß an Frustrationstoleranz und Resilienz muss hoch sein, um nicht aufzugeben. Wer zur Unzeit von Gerechtigkeit spricht, wer zur Unzeit die Bewahrung der Schöpfung einfordert, wer zur Unzeit vom Frieden redet, wer in schlechten Zeiten eine gute Botschaft verkündet, der muss mit Widerstand, Spott und Verachtung rechnen. Aber genau das sollen wir Christenmenschen tun: Vom Evangelium reden, von Gottes Frieden; nüchtern, leidensbereit und dienstbereit. Ruhig, quer zu den Zeiten und dem Mainstream liegen, eine eigene Zeit ausrufen! Denn das Reich Gottes hält sich nicht an die Grenzen von Zeit und Raum, es überwölbt sozusagen alle Zeit, stets im Begriff, in die Zeiten hinein anzubrechen und gegenwärtig zu werden. Bei Dir heute hier in Nürnberg, beim großen Friedensfest Kirchentag. Und wir ahnen das in allem, was wir an Frieden erleben, die Ewigkeit und die Wirklichkeit Gottes aufleuchtet. Und bei allem, was mit Krieg und Gewalt zu tun hat, spüren wir, wie vergänglich und tödlich die Welt auch sein kann. Das Evangelium schafft sich seine Zeit. Dazu sollen wir uns und unsere Ohren öffnen dürfen, dem Wort vom Reich Gottes und seiner Friedensbotschaft vertrauen, auch wenn wir manchmal unsicher, verängstigt sind und gar nicht mehr wissen, ob wir es so wagen dürfen. Ja, auch wenn wir belächelt und verspottet werden, lasst uns dabei bleiben, in der Unzeit von Gottes Frieden zu reden. In der Zeit des Krieges der Logik des Krieges zu widersprechen und der Logik Christi, der Botschaft des Kreuzes folgen. Jetzt ist die Zeit, in der Unzeit für den Frieden. Jetzt braucht es dich und deine Stimme. Jetzt braucht es deinen Mut, für den Frieden zu sprechen, zu arbeiten mit aller Hingabe. Dazu schenke uns Gott, seinen Geist und seine Kraft. Denn ER allein, denn SIE allein, denn DIE LEBENDIGE allein kann Frieden schaffen.

So sei es, Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.  [Applaus]  


2 Timotheus 4,1-5 Rede zur Zeit oder zur Unzeit!
1 So ermahne ich dich inständig vor Gott und Christus Jesus, der richten wird die Lebenden und die Toten, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich: 2 Predige das Wort, stehe dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre. 3 Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden; sondern nach ihrem eigenen Begehren werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken, 4 und werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zukehren. 5 Du aber sei nüchtern in allen Dingen, leide willig, tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, erfülle redlich deinen Dienst.